Die Kunst des Thomas Wegmann

Jan Hoet war im Jahr 2000 von dieser Installation, die das Unsichtbare wahrnehmbar machte, überaus fasziniert. In einer Ausstellung im sauerländischen Werl hatte der Künstler Thomas Wegmann Hochspannungsleitungen durch einen Raum gezogen und mehrere Synthesizer angeschlossen, in denen durch den Strom elektronisch Töne erzeugt wurden. Aus den Synthesizern führten zudem Kupferleitungen, die der Betrachter in die Hand nehmen konnte und die ihn über diesen Kontakt in den geschlossenen Energiekreislauf integrierten. Nahm der Betrachter die Kupferleitungen in die Hand, dann veränderte er durch seine körpereigenen Ströme die Töne – und die ansonsten nicht wahrnehmbare Frequenzen zwischen Nervosität und Ruhe wurden akustisch erlebbar. Jan Hoet, 1992 künstlerischer Leiter der „documenta IX“ und seit 2003 Leiter des Museums für zeitgenössische Kunst und Design in Herford („MARTa“), hätte dieser simplen wie genialen Position der Gegenwartskunst nach eigenen Worten einen Ausstellungsplatz auf der größten Weltkunstschau in Kassel gegeben.

Hinter aller formalästhetischen Raffinesse dieser hochaktuellen Prozesskunst stehen existenzielle Grundgedanken und ein großes bildnerisches Erfahrungsrepertoire des 56-jährigen Nordhorner Künstlers Thomas Wegmanns. Dabei ist die Kunst ein Abbild der Persönlichkeit Thomas Wegmanns: Sie ist wie er zurückgenommen und dem Hochglanz oder dem Spektakel der Welt abgewandt, sie ist auf das Wesen und Wesentliche konzentriert. Seit Jahrzehnten ist Thomas Wegmann in seinem Werk der ganz leisen Töne und stillen Nachdenklichkeit der Darstellung des Unsichtbaren und den Fragen universeller Ursprünglichkeit auf der Spur – und er versteht sein Ouevre dabei auch als eine freundliche Einladung an den Betrachter, sich auf diesen Weg zu den Quellen einzulassen und dabei den Spuren zu sich selbst folgen.

Wer sich auf das Werk Thomas Wegmanns über den rein unterhaltenden Wert des ästhetischen Erlebens hinaus einlassen will, der muss die üblichen und gewohnten Rezeptionsmuster von Kunst ablegen und bereit sein, mit den oftmals formal unscheinbar wirkenden Arbeiten in den offenen und interaktiven, nämlich selbstkritischen und selbstbefragenden Dialog zu treten. Er folgt bei Thomas Wegmann den bildnerisch gesetzten Spuren eines Künstlers, der selbst vorbehaltlos und vertrauensvoll seine Geborgenheit in einem universellen Ganzen gefunden hat und sich seinen Platz als unbedeutender, aber einzigartiger Bestandteil in diesem unendlichen Kreislauf des Erscheinens und Verschwindens zuweist: Alles fließt – und alles ist nichts. Die Auseinandersetzung mit dem Werk, das seine eigentlich provokative inhaltliche Sprengkraft niemals in flüchtiger Zuwendung zündet, kann für den geneigten Betrachter so zur Herausforderung einer Selbstverortung und Standortbestimmung werden. Doch narrativ werden diese Bilder, Objekte und Installationen nur für den, der mit sensiblen Antennen ihre fein nuancierten Impulse aufnimmt und in sich hinein hört – das Erzählerische entfaltet sich für den Betrachter nicht im Bild, sondern vor allem aus der ästhetisch initiierten Selbsterfahrung.

Das vermeintliche Nichts darstellen, etwas zeigen, was für die Sinne nicht da ist und dennoch als ständig fließender und folgenreicher Prozess im Verborgenen läuft. Der stillen Wahrheit hinter der lauten Wirklichkeit auf die Spur kommen und sie transparent machen. Oder zum Kern einer Sache vordringen und der Seele oder dem Gefühl erkennbare Form und Farbe geben. Das sind die Ziele, die Thomas Wegmann von Beginn an mit seiner Kunst verfolgt hat – und die ihn über verschiedene Schaffensphasen mit seinem technisch vielschichtigen Werk aus phantasievollen wie originellen Rauminstallationen, Land-Art-Projekten, Materialbildern, Öl- und Aquarellmalereien, Skulpturen und Objekten für den öffentlichen Raum über die Grenzen der Wahrnehmung hinaus geführt haben.

Dabei ist die ästhetische Motivation des Künstlers untrennbar verknüpft mit seiner eigenen spirituellen Lebenshaltung und existenziellen Sinnsuche, die er auch aus fernöstlicher Philosophie und Religion für sich ableitet. Er stellt einer den Menschen zunehmend von sich selbst entfremdenden Lebenswirklichkeit medialer Omnipotenz, einem an Konsum und Materialismus orientierten Lebensalltag und einer vornehmlich an wirtschaftlichem Erfolg definierten gesellschaftlichen Werteordnung ganz bewusst die Stille des Nichts und das vermeintlich Banale, Nichtige und Wertlose entgegen. Die zur Rückbesinnung auf sich selbst zwingende Auseinandersetzung mit einer derart unaufgeregten und unspektakulären Kunst kann als Tür zu sich selbst und zur eigenen Mitte geöffnet werden, wo vielleicht die Gelassenheit des Seins verborgen liegt und die Kraft und der eigentliche Zauber des Lebens zu finden sein könnten. Der stete Prozess der Veränderung in den Werken Thomas Wegmanns wird dabei zur überzeugenden Metapher für den ständig fließenden Prozess der Entwicklung und Veränderung in Natur und Leben.

In Zeiten globalisierter Systeme und einer vorrangig funktional und effizient ausgerichteten Kommunikations-, Informations- und Technologiegesellschaft mag diese lebensphilosophische Haltung als Anachronismus erscheinen. Doch in der Ambivalenz von gesellschaftlicher Realität und künstlerischer Idealisierung und Polarisierung liegt eine immense gesellschaftskritische Spannkraft des Werkes verborgen. Thomas Wegmann trifft inhaltlich mit seinem Werkansatz, der den Menschen nicht nur zum konzentrierten Dialog, sondern auch auf die oftmals schmerzhafte bis unerträgliche Einsamkeit mit sich selbst zurückwerfen kann, auf eine Gesellschaft, in der zunehmend das Bewusstsein zu einer Frage des Designs zu verkommen droht. Einem ins Hedonistische gesteigerten Individualismus und einer an Gewinnmaximierung ausgerichteten Gesellschaft kann Thomas Wegmanns Werk unverhofft zu einem Spiegel werden, der zur selbstkritischen Betrachtung zwingt.

Thomas Wegmann fußt als zeitgenössischer Künstler in seiner Erkenntnis von Wahrheit nicht nur in alter fernöstlicher Philosophie. Dabei zeigt er in seiner Auffassung jedoch auch Züge der Romantik – etwa wenn er als Künstler die Wahrheit als eine dem Menschen verborgene und schwer zugängliche Parallelwelt zur Wirklichkeit offenbaren und somit die Welt zum Klingen bringen will. Thomas Wegmanns Ziel, das „Unsichtbare sichtbar zu machen“ und zur „Seele einer Sache“ vorzudringen, ist auch ein tief romantisches. Doch wenn Thomas Wegmann den Betrachter über die bildnerische Prozesshaftigkeit auf existenzielle Grundfragen, Entwicklungen und Vernetzungen hinweist, dann formuliert er zeitgemäß – eben nicht mit dem verklärten Blick in die romantische Idylle, sondern in Form einer ernsthaften ästhetischen Position der Gegenwart.

Wer heute vor Thomas Wegmanns einzigartigen dreidimensionalen Objektbildern aus China-Papier, Öl, Pigmenten, Tusche und Glas steht, die als versiegelter bildnerischer Mikrokosmos völlig unsteuerbar nur noch sich selbst und der physikalischen wie chemischen Eigendynamik von Material, Druck, Temperatur und Zeit überlassen sind und sich somit in einem fließenden ästhetischen Prozess ständiger Veränderung und grandioser visueller Bewegung befinden, der steht vor dem Ergebnis eines über Jahrzehnte währenden Findungsprozesses. Thomas Wegmann hat sich als Künstler in einem konsequent verfolgten, aber langwierigen Entwicklungsprozess gehäutet, unbeeindruckt von Moden und Trends, ausgestattet mit großer Ausdauer und dem festen Glauben an die ästhetische Kraft seiner Kunst. Aus ungezählten Experimenten mit Material, Techniken und natürlichen Prozessen, aus formalen Erprobungen und Befragungen hat Thomas Wegmann seine unverwechselbare bildnerische Handschrift und seinen Weg gefunden, was sich heute in den faszinierenden Ölbildern verdichtet und manifestiert und die inhaltlichen Intentionen auf ästhetisch kraftvolle und überzeugende Weise artikuliert.

Am Anfang dieser langen Entwicklung stand ein Studienseminar an der Hochschule in Dortmund, das der junge Lehramtsstudent für Kunstpädagogik und Sozialwissenschaften 1975 besuchte und das den Anstoß gab. „Das Unsichtbare sichtbar machen“, lautete das Thema – und es blieb bis heute das große, mannigfach durchgespielte Thema für Thomas Wegmann, der seit Anfang der 1990er Jahre als freischaffender Künstler arbeitet.

Wer wie der junge Thomas Wegmann vor über 30 Jahren auf den Kern der Frucht stoßen will, der muss die Frucht schälen – und wer wie er hinter die Fassaden der Wirklichkeit schauen und zur Wahrheit vordringen will, der muss die Kulissen verschieben und die spektakelhaften Turbulenzen und Aufgeregtheiten der Lebenswirklichkeit verstummen lassen. Was erscheinen will, das muss sich bekanntlich trennen: In den formalen Aspekten des Minimalismus findet Thomas Wegmann anfangs für seine tradierten Malereien den stilistischen Ansatz. Das Streben nach Objektivität, schematischer Klarheit und Logik sowie die Reduzierung und die Definition von Wirklichkeit über einfache und übersichtliche Zeichen und Grundstrukturen werden im frühen malerischen Werk Thomas Wegmanns die formalästhetischen Mittel, um zu den existenziellen Quellen und der Ursprünglich des Seins vorzudringen und aufzuzeigen, was die Welt wohl im Verborgenen bewegt und zusammenhält.

Diese gestischen Malereien sind noch klar organisierte und geordnete, formen- und farbkarge, vom Ballast und der ablenkenden Geschwätzigkeit des Alltags befreite Bilder mit oftmals dem Zen- Buddhismus entlehnten, bizarr-organischen oder geometrisch ableitbaren Zeichen, die als Ergebnisse meditativer Prozesse existenzielle Erfahrungen Thomas Wegmanns widerspiegeln und somit auch Metaphern seiner Seelenlandschaft sind. Schon in diesem Frühwerk vermag es Thomas Wegmann, seine Seele aus der Gelassenheit innerer Balance im Bild atmen und eine Ahnung von dem sicht- und spürbar werden zu lassen, was der Einklang mit sich selbst und der Welt bedeuten mag, was den Zauber des Lebendigen ausmachen könnte. Wer sich als Betrachter auf die zur Besinnung rufende Kraft dieser freundlichen Bildwelten einlässt, dem können sie zu Oasen der Ruhe, Stille und Geborgenheit, der Hoffnung und des Trostes werden.

Unterwirft Thomas Wegmann in dieser Phase der Malerei die gesamte Bildfindung noch seinem eigenen Gestaltungswillen, so tritt er bald als Regisseur der ästhetischen Inszenierung zunehmend in den Hintergrund, um die interpretatorischen Aspekte seines Werkansatzes noch prägnanter und präziser zu untermauern. Ziel ist es, prozesshafte Veränderungen durch sich selbst zu präsentieren und repräsentieren zu lassen. Mit einem neuen Schritt seiner künstlerischen Entwicklung verlässt Thomas Wegmann das Atelier und setzt seine vorpräparierten Bildwelten von der Welt selbst der Welt aus. So werden etwa in der Aktion „Metamorphosen“ großformatige Acryl-Bilder, die Wegmann nur noch mit einem ästhetischen Bodensatz ausstattet, auf hohen Bambus-Konstruktionen in der freien Landschaft befestigt und mit der Oberfläche gen Himmel der prozesshaften Veränderung durch Wetter und Umwelteinflüsse überlassen. Nach Wochen unter Sonne und Regen finden sich auf all den Bildern eingetrocknete Spuren des Lebens wieder, die den Werken neue Farbnuancen und Formen gegeben haben – sogar Urtiere wie Wimperntierchen oder Algen leben zeitweise auf der Leinwand und lassen sich später nachweisen. Damit werden die Bilder über das Leben zu temporären Bildern vom Leben selber. Das, was im Unsichtbaren an Veränderungen läuft, wird für den Moment dem Verborgenen entrissen und eine Zeit lang sichtbar, bevor es in der Vergänglichkeit fließender Prozesse wieder vergeht. Wer aber an den Etappen der unaufhaltsamen Metamorphose teilhaben will, der müsste schon über Wochen zum Beobachter werden. Wenn die Leinwände zum Schluss von der Holzkonstruktion genommen werden, bleibt lediglich ihr jeweils aktueller Zustand zur Konservierung – und all das Vorausgegangene nur noch zu erahnen.

Thomas Wegmanns Entscheidung, Zeit und Material als selbstständig agierende Werkzeuge bildnerischer Gestaltung in für ihn unsteuerbaren Prozessen natürlicher Reaktion und des Zufalls arbeiten zu lassen, spricht für seine ästhetische Souveränität und seine zurückgenommene Haltung als Künstler. Wenn er sich später mit den unkalkulierbar gestalteten Werken wieder aus der Natur zurückzieht und bei den neuen Ölbildern schließlich doch wieder verstärkt in die bildnerische Inszenierung im Atelier einbringt, dann tut er das, um über die Vielschichtigkeit der Natur hinaus nun die Vielfältigkeit des ganzen Lebens zu zeigen und um natürliche Veränderungsprozesse erlebbar zu machen und dauerhaft konservieren zu können. Die ewigen existenziellen Themen, die vielen Fragen und möglichen Antworten um das Sein als bildnerische Botschaften bleiben – doch langsam und vorsichtig öffnet sich Thomas Wegmann mit sensibler Zurückhaltung und jenseits aller plakativen Positionierung auch den aktuellen und relevanten gesellschaftlichen und politischen Fragen – wie neuerdings etwa auch dem so genannten Kampf der Kulturen und Religionen.

Wie in seinen frühen Malereien setzt Wegmann heute in den komplizierten wie technisch ausgeklügelten Objektbildern als bildnerische Grundlagen seine Zeichen als Metaphern der Erkenntnis und als Strukturen des Lebens. Auffallend an den Formen ist heute die starke Konzentration auf die Linie, die Räume und Positionen trennt oder verbindet, die Stillstand oder Bewegung markiert, Flächen dehnt oder verdichtet oder schlicht als Spur des Arbeitsprozesses im Werk verbleibt. Doch mit der Formfindung der Grundzeichen steht das Werk erst am Anfang seines auf Jahre angelegten Gestaltungsprozesses, der nicht zuletzt mit seiner spannenden ästhetischen Eigendynamik den Betrachter für sich gewinnt und fesselt. Thomas Wegmanns selbst hergestellte, hoch anspruchsvolle Farbqualitäten kommen dabei wie das benutzte Öl aus der Natur. Auch arbeitet er mit fluoreszierenden Farben, die den Bildern bei Dunkelheit eine völlig andersartige Wirkung geben. Auf hauchdünnen Reis- oder China-Papieren legt Thomas Wegmann die Farbpigmente an oder gibt kompositorische Strukturen und Formen vor, in deren Rahmen sich später die bildnerischen Veränderungen entwickeln. Mehrere dieser formal gestalteten oder farbig präparierten Papierschichten legt Thomas Wegmann in Öl und presst sie unter hohem Druck zwischen zwei drei bis vier Millimeter starke Glasscheiben. Nach vielen Experimenten hat der Künstler mittlerweile ein technisches Verfahren entwickelt, mit dem sich dabei nahezu der gesamte Sauerstoff aus dem Objektbild entziehen lässt. Das Atelier verlässt schließlich eine 30 bis 40 Kilogramm schwere Arbeit, deren versiegeltes Innenleben unter den Einflüssen von Druck, Temperatur oder Schwerkraft jedoch erst am Anfang ihrer nicht vorhersehbaren und planbaren Metamorphosen steht.

Thomas Wegmanns Kunst kommt heute als ein kontraststarker Gegenentwurf zur Welt daher. Dem Spektakel und der Hektik des rasanten Wandels, des technischen Fortschritts und der schnellen bunten Bilder des Alltags stellt Thomas Wegmann mit der langwierigen temporären Veränderung eine Form der Langsamkeit bewusst in den Weg und fordert so zur Muße und zur Geduld auf. Diese Werke können für den Betrachter zu Fluchtpunkten der Ruhe und Besinnung werden. Die fein justierte Balance in den Bildern, die Thomas Wegmann aus der inneren Mitte seiner selbst findet und im Kontext einer in sich stimmigen Lebenslogik ästhetisch vollendet zu formulieren vermag, überträgt jene Momente von Friedfertigkeit, Sanftmut und Gelassenheit, die sich vermutlich nur im harmonischen Einklang mit sich selbst und der Welt finden lassen. Diese freundlichen und optimistischen Bilder wollen als Einladung verstanden werden, die Tür zu sich selbst zu öffnen.


Thomas Kriegisch

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